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CLUB DER TOTEN FIXER

(Aus „Park Avenue“ 6/06. Axel Schöpflins Geschichte wird auch in „Danach war alles anders – Suchtgeschichten“ erzählt.)

Eine Villa am Meer in Kalifornien, Pool, Hausangestellte. Axel Schöpflin, Sohn der wohlhabenden deutschen Versandhaus-Familie, lebt eine Jugend auf der Sonnenseite. Er ist Schulbester, mit seinen Freunden debattiert er über Schopenhauer und Rilke. Dann kommt eine Lieferung Heroin.

 

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Früher kam sie häufig hierher. Vor allem in den Wochen und Monaten nach dieser Tragödie, die ihr Leben für immer verändert hat. Stunde um Stunde hat sie dort am Rand der Klippen gesessen, im weichen Gras, und hinaus gesehen auf das Meer. „Es ist ein guter Ort, wenn man nachdenken möchte“, sagt Lisl Schöpflin. Ihr Bruder Axel saß früher auch oft hier, zusammen mit seinen Freunden. Um Axel kreisen ihre Gedanken noch heute häufig.
Ein wenig unterhalb dieser Stelle befindet sich ein Ort, an dem Lisl Schöpflin noch nie gewesen ist. Ein dunklerer Ort. In den Klippen verborgen ist eine Höhle, nur schwer zu erreichen, der Abstieg ist steil und nicht ungefährlich. Aber es ist nicht die Gefahr, die sie schreckt. Lisl Schöpflin ist sportlich und klettererfahren. Es ist die Erinnerung. In diese Höhle, durch Ozean und Felsen vor neugierigen Blicken geschützt, haben Axel und seine Freunde sich vor mehr als einem Jahrzehnt zurück gezogen, ihr Heroin aufgekocht und sich Spritzen in ihre Venen gestochen. Als Axel am 12. Juni 1995 nach einer Überdosis starb, hat Lisl Schöpflin die Hand ihres toten Bruders gehalten. Da war sie 15 Jahre alt. Heute, im April 2006, ist sie 26, eine hübsche und lebendige junge Frau mit langen dunklen Haaren und wachen braunen Augen. Sie ist charmant, klug und herzlich, ihre Stimme klingt hell und klar, ihr Lachen natürlich. Hier, in La Jolla, an der kalifornischen Küste, ist sie aufgewachsen. In ihrer Kindheit wurde zu Hause neben Englisch auch Deutsch gesprochen, ihr Vater stammt aus Deutschland, ihre Mutter aus Österreich. Nur wenige Tausend Meter von dieser Klippe entfernt steht das Haus, in dem die Familie gelebt hat. Die Mutter wohnt noch immer dort, in wenigen Tagen wird auch sie ausziehen. Lisl, die heute Hunderte Kilometer entfernt in Oakland lebt, hilft ihr beim Umzug. Dafür ist sie angereist. „Es ist eine sehr schwierige Zeit für meine Mutter“, sagt sie. Vor allem, weil das Haus voll ist von Fotos, Briefen, Bildern und Büchern ihres Bruders. Voll von Erinnerungen an die Tragödie, die ihr Leben lange überschattet und ihre Familie auseinander gerissen hat.
Lisl Schöpflin wird 1979 geboren, sie ist die Jüngste, ihr Bruder Axel ist dreieinhalb, ihre Schwester Isabel sechs. Ihre Mutter Marilies, eine elegante, schöne Frau, ist ein Kind des Wiener Großbürgertums, sie hat die besten Schulen besucht, Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und in Künstlerkreisen verkehrt. Vor der Geburt ihrer Kinder hat sie an der Universität von Nancy Deutsch und Theatergeschichte unterrichtet und für einen Wiener Theaterverlag als Lektorin gearbeitet. Seit 1975 lebt die Familie in La Jolla, einem pittoresken Vorort von San Diego an der amerikanischen Westküste. Lisls Vater Hans, Sohn von Hans Schöpflin Senior, der mit dem Versandhaus Schöpflin den Grundstein zum Wohlstand der Familie legte, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann; er hat in den USA eine Warenhauskette aufgebaut.
Der Alltag der Familie ist geprägt von materieller Sicherheit und Schönheit: ein weitläufiges Haus am Meer, in kalifornisch-spanischem Stil erbaut, die Zimmer sind groß, lichtdurchflutet und geschmackvoll eingerichtet, im Garten ein Swimmingpool. Der mondäne Country Club mit eigenem Strand liegt ganz in der Nähe, im Winter fliegt die Familie zum Skifahren in die Schweiz. Ein Leben auf der Sonnenseite, voller Bücher, Bilder und Musik; der Vater sammelt moderne Kunst, die Mutter liebt Literatur und klassische Musik, besonders Haydn und Mozart.
Auch Axel begeistert sich für Kunst, Literatur, Philosophie und Musik, für Klassik genauso wie für Rock der sechziger und siebziger Jahre; Bach und Bob Dylan, Beethoven und Jim Morrison. Axel ist neugierig und klug, an seiner High School gehört er zu den Besten.
Axels Beziehung zu seiner Mutter ist innig, das Verhältnis zu seinem Vater dagegen schwierig. Der Geschäftsmann ist häufig unterwegs, sehr viel Zeit verbringen Vater und Sohn nicht miteinander. Nur, wenn sie im Urlaub Ski laufen, sind sie einander nahe. Den Geschäftssinn des Vaters scheint Axel nicht geerbt zu haben; Wirtschaft und Finanzen interessieren ihn nicht. Manchmal flößt der zielstrebige und erfolgreiche Vater dem Jungen regelrecht Angst ein. Dann fürchtet er, er könne den Ansprüchen des Vaters nicht genügen.
Die dreieinhalb Jahre jüngere Lisl verehrt den großen Bruder. Axel leitet sie an, gibt ihr Bücher zu lesen, spielt ihr Musik vor, berät sie in der Wahl ihrer Freunde. Er ist ihr Vorbild, ihr Ratgeber, ihr Freund und Beschützer.
Axel kleidet sich extravagant – ein abgewetzter Samtanzug aus dem Secondhand-Laden, ein altmodischer, schwarzer Bowler, wie ihn die Fiaker in Wien tragen. Seine Freunde sehen ähnlich aus. Axel ist 15, da treffen sie sich einmal in der Woche nach der Schule auf jener Lichtung auf den Klippen, hoch oben über der Küste von La Jolla, wo der Blick frei ist und Meer und Himmel endlos scheinen. Hier sitzen sie, fünf, sechs Jungs zwischen 15 und 17, sehen die Sonne untergehen, lesen Rilke, Freud, Schopenhauer und reden sich die Köpfe heiß. Sie wollen Künstler oder Philosophen sein, die Welt verändern. Sie sind Idealisten, beseelt von heiligem Ernst und einer Selbstgewissheit, wie sie wohl nur Teenager kennen. Axel wählt die Bücher aus und führt meist das Wort. Am Abend spielt er auf seiner Gitarre Stücke von Bob Dylan. Irgendwann beginnen sie, auch mit Drogen zu experimentieren, suchen Inspirationen und neue Perspektiven im Drogenrausch. Axels Familie ahnt nichts davon.
„Axel und seine Freunde sind in La Jolla sehr aufgefallen“, sagt Lisl Schöpflin. „Nicht nur wegen ihrer Kleidung. Sie waren einfach sehr präsent, neugierig und lebendig.“ In der Buchhandlung, in der Axel in dem Jahr vor seinem Tod nach der Schule gearbeitet hat, hängt noch immer sein Bild an einer Tür. Es zeigt einen jungen Mann mit schmalem, ernstem Gesicht und feinen Zügen, das dunkelblonde Haar hat er kurz geschnitten. Der Inhaber des Ladens hat Axel sehr geschätzt. „Axel hätte ein großer Denker werden können“, sagt er. Auch Lisl hat zu dem großen Bruder aufgeschaut. „Mit 14 war ich davon überzeugt, dass Axel mir beibringen wird, worum es eigentlich geht im Leben.“
Sie will sich auch an die positiven Seiten des Bruders erinnern. „Axel war viel mehr als ein Drogenabhängiger, der an einer Überdosis starb“, sagt sie. „Seine Leidenschaft, seine Begeisterungsfähigkeit und seine Liebe zum Leben haben mich tief beeindruckt.“ Ihr ist es wichtig, dass die Geschichte ihres Bruders erzählt wird. „Wenn es um das Thema Drogen und Sucht geht“, sagt sie, „haben viele Menschen leider nur Klischees im Kopf und denken, dass Thema gehe sie nichts an.“ Darum hat sie sich entschlossen, in der Öffentlichkeit über ihren Bruder und seinen Tod zu reden, zum ersten Mal, auch wenn es immer noch schmerzt.
Axels Familie hat ebenfalls lange geglaubt, das Thema Heroin hätte nichts mit ihrem Leben zu tun. Manchmal hat Lisl sich gewundert, wenn ihrem Bruder beim gemeinsamen Abendessen die Augen zufielen und der Kopf auf die Brust sank. „Wahrscheinlich ist er müde“, hat sie dann gedacht. Auch ihre Mutter hat lange nichts bemerkt. „Leider“, sagt Marilies Schöpflin. Sie ist Anfang sechzig, groß und schlank. Ihr braunes Haar trägt sie kurz, die kalifornische Sonne hat ihre Haut gebräunt. Schmerz und die Trauer haben Falten in ihr Gesicht gegraben. Sie atmet schwer und spricht leise. Die Erinnerung scheint sie anzustrengen. „Vielleicht hätte ich sonst etwas ändern können.“ Noch heute fragt sie sich, welche Warnsignale sie übersehen hat.
In den vergangenen Jahren hat sie nach Antworten gesucht, auch im Gespräch mit früheren Freunden ihres Sohnes. „Ich denke, was Axel an den Drogen fasziniert hat, war die Möglichkeit, seinen Geist zu erweitern, besondere Erfahrungen zu machen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Schließlich hatten viele der Literaten, Künstler und Denker, die er so verehrte, mit Drogen experimentiert. Er hat die Gefahr einfach unterschätzt.“
Axel ist 16, als er die Droge mitbringt ins Haus seiner Eltern. Sein Freund P. ist drei Jahre älter, ein sensibler, intelligenter junger Mann, in den ersten High-School-Jahren hatte er zwei Klassen übersprungen. P. ist ein talentierter Maler. Und ein Junkie. Sein Heroinkonsum hat ihm schon einige Schulverweise eingebracht, seine Eltern haben ihn hinausgeworfen und die Unterstützung gestrichen. „P. ist ein Genie“, sagt Axel zu seiner Mutter. „Wir müssen ihm helfen, von den Drogen loszukommen.“ Einige Wochen später bringt er seinen Freund für einen methadongestützten Drogenentzug in eine nahe gelegene Klinik. Marilies ist stolz auf ihren Sohn.
Im Frühling des Jahres 1994, Axel ist 18 und steht kurz vor dem Abschluss der High School, spürt Marilies Schöpflin eine seltsame Unruhe. Ihr Sohn ist im Badezimmer, hat sich dort eingeschlossen, einige Ewigkeit schon, scheint es ihr. Seit Wochen schwelt in ihr ein vages Misstrauen. Das Verhalten ihres Sohnes hat sich verändert, oft wirkt er abwesend und unnahbar. Sein Freund P. hat seinen Klinikaufenthalt abgebrochen, ein anderer Freund ist kürzlich nach einer Überdosis Heroin auf der Intensivstation gelandet. Als Marilies davon erfuhr, hat sie ihren Sohn gefragt: „Axel, nimmst du auch Drogen? Du musst keine Angst haben, wir helfen dir. Aber sag mir bitte die Wahrheit.“ Axel hat empört reagiert. „Mama, hältst du mich für einen Idioten?“, hat er gesagt, „Ich werde mir doch nicht mit Drogen mein Gehirn ruinieren. Ich will noch so viel erreichen im Leben! Glaubst du, ich will in der Gosse enden?“ Damals hat ihr diese Antwort genügt. Axel wirkte sehr überzeugend, und er hatte nie gut lügen können.
Aber ein Rest von Unruhe ist geblieben. Und dieser Rest wächst an diesem Tag, wird so groß, das sie ihn nicht mehr ignorieren kann. Sie klopft an die Tür des Badezimmers. Nichts geschieht. Sie klopft erneut, wieder keine Antwort. „Axel, mach auf, ich weiß, dass du da drin bist.“ Ihr Sohn antwortet nicht. Was soll sie tun? Ihr Mann ist auf einer Geschäftsreise, Isabel studiert mittlerweile in Stanford, Marilies ist allein mit Axel und ihrer jüngsten Tochter. Die 14-jährige Lisl ist in ihrem Zimmer, sie steht vor dem Kleiderschrank, am Abend will sie auf eine Party gehen, sie kann sich nicht entscheiden, was sie anziehen soll. Ihre Mutter öffnet hastig die Tür. „Axel hat sich im Bad eingeschlossen und reagiert nicht“, sagt Marilies. Sie klopfen gemeinsam, rufen seinen Namen. Kein Laut dringt aus dem Badezimmer. „Dir scheint es nicht gut zu gehen“, sagt seine Mutter, „ich rufe jetzt den Rettungsdienst.“ Axel reagiert nicht.
Der Rettungswagen kommt nach wenigen Minuten. Als einer der Sanitäter energisch gegen die Tür klopft, öffnet Axel. „Hier ist alles in Ordnung“, sagt er, sein Blick ist verschleiert, seine Stimme scheint aus weiter Ferne zu kommen. Er kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Rettungssanitäter untersuchen den apathisch wirkenden jungen Mann. „Sieht nach einer hohen Dosis Heroin aus“, sagt einer der Sanitäter und injiziert Axel ein Medikament, das ihn ausnüchtern soll. Dann verabschieden sie sich.
Marilies will nicht, dass die Lisl ihren geliebten Bruder so sieht. „Besser, du gehst in dein Zimmer und machst Hausaufgaben“, sagt sie. Aber Lisl will bei ihrem Bruder bleiben, Hausaufgaben, die Party später am Abend, nichts ist mehr von Bedeutung. Sie will helfen. Auch wenn sie kaum begreift, was vor sich geht. Das Mädchen setzt sich neben den großen Bruder, der teilnahmslos auf dem Sofa hockt, und nimmt seine Hand. Marilies setzt sich auf die andere Seite, der Schock und die Angst lassen sie am ganzen Körper zittern. Sie versucht, mit ihrem Sohn zu reden, aber es gelingt ihr kaum, durch das Heroin zu ihm durch zu dringen.
Marilies sucht nach Antworten. Sie will ihrem Sohn helfen. Aber bevor sie helfen kann, muss sie verstehen. Warum hat er das getan? Wie lange nimmt er schon Drogen? „Das war das erste Mal“, sagt Axel schließlich, „Das war nur ein Versuch, viele der gescheitesten Menschen der Welt haben mit Drogen experimentiert. Aber ich weiß jetzt, dass es ein Fehler war. So etwas wird nie wieder vorkommen, das musst du mir glauben.“ Marilies will ihm glauben, unbedingt. Ihr kluger, sensibler, talentierter Sohn kann doch nicht so dumm sein, sich sein Leben mit Drogen zu ruinieren. Sie nimmt Axel in den Arm. Jetzt nur keinen Streit, der den Sohn noch weiter weg treiben könnte.
Hans Schöpflin reagiert anders. Seine Angst und Hilflosigkeit schlagen um in Wut. Er schreit seinen Sohn an, droht ihm mit Strafe. Danach nur Sprachlosigkeit. Er findet keine Worte für den Aufruhr in seinem Inneren. Dass dieses Schweigen den Vater genauso schmerzt, ahnt Axel nicht. Hilflosigkeit, Angst, so etwas passt nicht in das Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hat.
In dieser Nacht findet Lisl Schöpflin keinen Schlaf. Da ist eine diffuse Angst, die größer und größer wird. Sich in ihr festsetzt. Zum ersten Mal spürt sie, dass die Sicherheit und Harmonie, die ihr Leben ausmachen, brüchig sind. Was ist das Schlimmste, das ihrer Familie zustoßen könnte? Sie liegt wach und malt sich Katastrophen aus. Die Schlimmste wäre, dass Axel an den Drogen stirbt.
Aber die Katastrophe scheint auszubleiben. Im darauf folgenden Jahr besteht Axel die Abschlussprüfungen an der High School als Klassenbester, er wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Das Familienleben geht wieder seinen gewohnten Gang. Axels Mutter hat gelesen, dass Drogenabhängige durch rapiden Leistungsabfall und Verwahrlosung auffallen. Nichts davon bemerkt sie bei ihrem Sohn. Im Gegenteil, er bekommt die Zusage für einen Studienplatz in Physik und Philosophie an der renommierten Chicagoer Universität.
Im September 1994 zieht Axel nach Chicago. Er lebt sich schnell ein, findet neue Freunde, und auch an der Universität gehört er bald zu den Besten. Marilies besucht ihn häufig, im Laufe der Wochen und Monate schwindet ihre Angst vollständig. Auch Hans besucht seinen Sohn in Chicago. Zaghaft beginnen Vater und Sohn, sich einander anzunähern, das erste Mal seit Jahren. Gemeinsam besuchen sie das Museum of Contemporary Art, Axel ist beeindruckt vom Kunstverstand seines Vaters.
Im März des darauf folgenden Jahres stirbt Andre, einer von Axels engsten Freunden in La Jolla, an einem Hirntumor. Es ist ein schwerer Schock. Marilies fliegt nach Chicago, sie will ihrem Sohn beistehen. „Axel, ich bin so stolz auf dich, dass du es geschafft hast, von den Drogen loszukommen“, sagt sie kurz vor ihrem Rückflug. Zu diesem Zeitpunkt spritzt Axel längst wieder Heroin.
Die Semesterferien verbringt Axel im Haus seiner Eltern. Lisl ist glücklich, dass der geliebte Bruder wieder da ist. Am späten Vormittag des 12. Juni 1995 kommt sie vom Klavierunterricht nach Hause. Axel tollt im Garten mit dem Hund. Sie setzt sich im Wohnzimmer an das Piano und beginnt zu spielen, den „Türkischen Marsch“ von Mozart. Irgendwann kommt ihr Bruder ins Zimmer und hört zu. Auf Axels Rat hin hat sie begonnen, diese Partitur zu lernen, er lobt sie für ihre Fortschritte. Lisl ist stolz. Sie ahnt nicht, dass es das letzte Mal sein wird, dass sie ihren Bruder lebend sieht.
Lisl geht in ihr Zimmer. Es ist der letzte Schultag, sie räumt die alten Schulbücher beiseite, schafft Platz für all das Neue, das nach den Sommerferien auf sie wartet. Ein warmer, sonniger Frühsommertag, Lisls Mutter sitzt in ihrem Arbeitszimmer im Obergeschoss des Hauses, sie hat die Fenster geöffnet, vom Meer her weht ein lauer Wind. Die Stimmung in der Familie ist harmonisch. Hans und Axel sind ein paar Tage zuvor essen gegangen, allein. Beinahe sechs Stunden waren die beiden unterwegs, und als sie nach Hause kamen, wirkten sie aufgekratzt. Hans strahlte vor Glück. „Aus Axel ist ein toller junger Mann geworden“, sagte er am Abend zu seiner Frau.
Es klopft an Marilies‘ Zimmertür. Es ist Florencia, die spanische Haushaltshilfe. „Wissen Sie, wo Axel ist?“, fragt sie. „Ich kann ihn nirgends finden. Ich würde gerne sein Zimmer sauber machen.“ Marilies schaut in Axels Zimmer, sieht im Wohnzimmer nach, im Garten. Keine Spur von ihm. Sie ruft ihren Sohn. Keine Antwort. Das Schweigen macht ihr Angst. Sie eilt zum Badezimmer. Die Tür ist verschlossen. Sie rüttelt daran. „Axel, bist du da drin? Mach bitte auf.“ Niemand antwortet. Was soll sie tun? Hans ist nicht zu Hause, nur Lisl. Marilies muss in dieses Badezimmer gelangen, irgendwie. Das Badezimmerfenster ist von außen mit einem mexikanischen Schmiedeeisengitter verziert, vielleicht gelingt es Lisl, sich durch die Lücke hindurchzuzwängen. Marilies ruft die 15-jährige Tochter zu Hilfe. Lisl entriegelt die Badezimmertür mit einem Kleiderbügel. Öffnen lässt sie sich dennoch kaum, etwas Schweres blockiert die Tür von Innen. Es ist Axel, der am Boden liegt. Mit vereinten Kräften schieben Marilies und Lisl die Tür auf. Marilies nimmt den regungslosen Sohn weinend in die Arme, bettet seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie ruft seinen Namen, immer wieder. Aber Axel antwortet nicht. Kein Laut, keine Bewegung, kein Atemzug. „Ruf den Notarzt, schnell.“ Lisl eilt zum Telefon. Wählt die Notrufnummer, dann die Büronummer ihres Vaters. Dann holt sie aus dem Zimmer ihres Bruders den Hut, den Axel so gerne trägt. Sie setzt sich neben ihre Mutter und den Bruder und wartet auf die Sanitäter, den Hut wird sie tagelang nicht mehr aus der Hand legen.
Hans Schöpflin trifft kurz vor dem Rettungswagen ein. Als er seine Frau dasitzen sieht, den reglosen Sohn in den Armen, schreit er auf, laut und gequält, Tränen rinnen über sein Gesicht. Es ist das erste Mal, dass Lisl ihren Vater weinen sieht. Die Sanitäter können wenige Minuten später nur noch den Tod durch eine Überdosis Heroin feststellen. Lisl ruft den Pfarrer. Als der Geistliche Axel die Sterbesakramente erteilt, hält Lisl Axels Hand.

Nachdem der Leichnam abtransportiert ist, verkriecht sich Marilies Schöpflin im Zimmer ihres Sohnes. Sie steht unter Schock, das ist zu viel für sie, viel zu viel. Sie legt sich auf Axels Bett, schlingt die Arme um ihre Beine, rollt sich zusammen wie ein Kleinkind. Sie kann nicht aufhören zu weinen.
„Als ich damals Axels Hand gehalten habe, war er ganz kalt und blau“, erinnert sich Lisl Schöpflin, ihre Stimme stockt ein wenig. „In dem Moment habe ich deutlich gespürt, dass mein Bruder nicht mehr da war.“ Axels Überdosis hat ihr Leben für Jahre überschattet; ein Schock, der eine existenzielle Angst in ihr auslöste. Sie sei lange depressiv gewesen, der Gedanke an Tod und Verlust habe ihr gesamtes Denken beherrscht, sagt sie.
Die Verarbeitung hat gedauert. Das Schreiben und eine Gesprächstherapie haben ihr dabei geholfen. Schon in der High School hat sie begonnen, Theaterstücke zu schreiben. Für ihr erstes Stück, das von einer Bruder-Schwester-Beziehung handelt, wurde sie als 16-Jährige beim „California Young Playwrights Contest“ ausgezeichnet. Ein späteres Stück erzählte die Geschichte eines Jungen, der an einer Überdosis stirbt.
Nach der Highschool studierte sie an der Universität von Pennsylvania Anthropologie und Theaterwissenschaften, während ihres Studiums arbeitete sie ein Jahr in San Salvador mit Straßenkindern. „Eine Zeit lang habe ich versucht, so zu leben, wie ich dachte, dass Axel es getan hätte, ich wollte sein Vermächtnis wahren“, sagt sie. „Es hat Jahre gedauert, bis ich in der Lage war, mein eigenes Leben zu führen.“ Sie habe ihren Bruder lange idealisiert. Erst seit einigen Jahren könne sie ihn differenzierter sehen. „Natürlich war er noch unfertig, manchmal sogar überheblich und selbstgefällig“, gesteht sie ein. „Er hat einfach nicht daran geglaubt, dass die Drogen ihm etwas anhaben können.“
Noch heute ist Axel sehr präsent in ihrem Leben. Zu einigen der alten Freunde und ehemaligen Freundinnen ihres Bruders pflegt sie eine enge Beziehung. Und erst kürzlich hat ein alter Brief ihres Bruders, der ihr zufällig in die Hände fiel, sie dazu bewogen, einen ungeliebten Job zu kündigen und sich wieder verstärkt dem Theater zu widmen. „Er hat mir klar gemacht, wie wichtig es ist, die Dinge zu tun, die mir wirklich etwas bedeuten“, sagt sie.
Ihre Mutter hat sich in den Jahren nach Axels Tod bemüht, das unvollständige Puzzle seines Sterbens zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. „Ich glaube nicht, dass Axel sich umbringen wollte“, sagt Marilies Schöpflin. Wenige Wochen nach Axels Tod hat sie in der New York Times gelesen, dass in jenem Monat eine große Lieferung von sehr reinem Heroin an der Ost- und an der Westküste der USA eingetroffen war. Dieser Stoff habe die Zahl der Herointoten zu dieser Zeit drastisch ansteigen lassen. Dass Axel an einer Überdosis gestorben ist, begreift Marilies Schöpflin als tragischen Unfall. Trotzdem quälen sie noch heute Fragen nach Schuld, Verantwortung und Versäumnissen.
Axels Tod hat die Familie auseinander gerissen. „Hans und ich sind mit dieser Belastung nicht zurechtgekommen“, sagt Marilies Schöpflin. Auch, weil es auf beiden Seiten Vorwürfe und Schuldzuweisungen gab, unausgesprochen zwar, aber quälend. Trost beim anderen zu finden war ihnen nicht möglich. Nicht einmal reden konnten sie miteinander über den Schmerz und den Verlust. „Wir beide sind völlig unterschiedlich mit unserer Trauer umgegangen“, sagt Marilies Schöpflin. „Jeder hat auf seine Weise versucht, irgendwie weiterzuleben.“ Ihr Mann hat seinen Schmerz und seine Verzweiflung in Wut gekleidet. Für ihn, der sein Leben lang Probleme angepackt und gelöst hatte, waren dieser Verlust, die Hilflosigkeit und das Gefühl der Niederlage nicht anders auszuhalten.

Marilies hat sich in sich selbst zurückgezogen, eingemauert in der Erinnerung, unerreichbar für ihren Mann. Sie wollte den Sohn betrauern und die glücklichen gemeinsamen Momente im Gedächtnis bewahren, seine Stärken. Den Ärger des Ehemannes auf den toten Sohn und auf dessen Sucht konnte sie nicht ertragen.
Zwischen den Eheleuten war irgendwann nur noch Schweigen, hilflos und anklagend. „Es war, als würden wir beide in einem schlimmen Sturm auf dem Ozean treiben. Jeder in einem eigenen kleinen Ruderboot, inmitten turmhoher Wellen, die Strömung trieb uns auseinander. Und unsere Boote hatten beide ein Leck. Wir konnten einander nicht helfen, wir konnten nicht einmal zueinander gelangen.“ Das Ende der Ehe war nicht mehr aufzuhalten. Hans Schöpflin zog aus und siedelte über nach San Francisco. Er sah am Ende keine andere Möglichkeit mehr. Zwei Jahre nach Axels Tod wurden seine Eltern geschieden.
Lisl war damals sehr wütend auf den Vater, sie fühlte sich verraten und im Stich gelassen. „Ich konnte das nicht verstehen, ich wollte, dass er bei uns bleibt, stark ist und uns hilft“, sagt sie.  Mittlerweile sind sich Lisl Schöpflin und ihr Vater wieder näher gekommen, regelmäßig verbringen Hans, Marilies, Lisl und Isabel Schöpflin den Urlaub gemeinsam.  Die Familie hat wieder zusammengefunden. Nicht zuletzt durch die gemeinsame Arbeit für den von Hans Schöpflin ins Leben gerufenen gemeinnützigen Sunflower Fund, in dem sich die Schöpflins seit fast zwei Jahren gemeinsam engagieren. Der Sunflower Fund unterstützt unter anderem sozial Unterprivilegierte, versucht, ihnen Bildung zu ermöglichen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. „Axels Lieblingsblume war die Sonnenblume“, sagt Lisl Schöpflin. „Mit der Stiftung wollen wir in seinem Sinne einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt ein besserer Ort wird.“
Ein Anliegen, dem Hans Schöpflin mittlerweile seine gesamte Energie widmet. Axels Überdosis hat das Leben seines Vaters umgekrempelt. „Früher ging es meinem Vater hauptsächlich um beruflichen Erfolg“, sagt Lisl Schöpflin. Heute scheint es beinahe so, als habe der Vater das Erbe seines Sohnes angetreten. Vor vier Jahren hat er gemeinsam mit seiner Ex-Frau, seinen Töchtern und seinen Geschwistern die Stiftung „Villa Schöpflin – Zentrum für Suchtprävention“ gegründet und ihr den Familienstammsitz überschrieben, eine Villa im baden-württembergischen Lörrach. Die Schöpflins wollen helfen, anderen Eltern die schmerzhaften Erfahrungen zu ersparen, die sie selbst machen mussten. Oder, wenn das nicht möglich ist, zumindest einen Ort schaffen, an dem sie Rat und Hilfe finden können.
Vor wenigen Wochen ist die Arbeit der Villa Schöpflin von der Initiative „Land der Ideen“ ausgezeichnet worden. Zudem haben Hans Schöpflin und seine Geschwister die Staufermedaille des Landes Baden Württemberg verliehen bekommen, als Auszeichnung für „beispielhaftes Engagement, das  sich Menschen zuwendet, die am Rande stehen“. Hans Schöpflin wendet viel Zeit und Energie dafür auf, Sponsoren und Spender für seine Projekte zu gewinnen. „In Deutschland ist gemeinnütziges Engagement leider noch nicht selbstverständlich“, sagt er. Von seinen geschäftlichen Erfolgen in der profitorientierten Wirtschaft mag er heute nicht mehr sprechen. Dass war in einem anderen Leben.
Doch trotz des Bewusstseinswandels, den Axels Überdosis bei ihm ausgelöst hat, über den Tod seines Sohnes kann Hans Schöpflin nicht reden. Die Erinnerung, sagt er, sei noch immer zu schmerzhaft.

CLUB DER TOTEN FIXER

(Aus „Park Avenue“ 6/06. Axel Schöpflins Geschichte wird auch in „Danach war alles anders – Suchtgeschichten“ erzählt.)

Eine Villa am Meer in Kalifornien, Pool, Hausangestellte. Axel Schöpflin, Sohn der wohlhabenden deutschen Versandhaus-Familie, lebt eine Jugend auf der Sonnenseite. Er ist Schulbester, mit seinen Freunden debattiert er über Schopenhauer und Rilke. Dann kommt eine Lieferung Heroin.

 

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Früher kam sie häufig hierher. Vor allem in den Wochen und Monaten nach dieser Tragödie, die ihr Leben für immer verändert hat. Stunde um Stunde hat sie dort am Rand der Klippen gesessen, im weichen Gras, und hinaus gesehen auf das Meer. „Es ist ein guter Ort, wenn man nachdenken möchte“, sagt Lisl Schöpflin. Ihr Bruder Axel saß früher auch oft hier, zusammen mit seinen Freunden. Um Axel kreisen ihre Gedanken noch heute häufig.
Ein wenig unterhalb dieser Stelle befindet sich ein Ort, an dem Lisl Schöpflin noch nie gewesen ist. Ein dunklerer Ort. In den Klippen verborgen ist eine Höhle, nur schwer zu erreichen, der Abstieg ist steil und nicht ungefährlich. Aber es ist nicht die Gefahr, die sie schreckt. Lisl Schöpflin ist sportlich und klettererfahren. Es ist die Erinnerung. In diese Höhle, durch Ozean und Felsen vor neugierigen Blicken geschützt, haben Axel und seine Freunde sich vor mehr als einem Jahrzehnt zurück gezogen, ihr Heroin aufgekocht und sich Spritzen in ihre Venen gestochen. Als Axel am 12. Juni 1995 nach einer Überdosis starb, hat Lisl Schöpflin die Hand ihres toten Bruders gehalten. Da war sie 15 Jahre alt. Heute, im April 2006, ist sie 26, eine hübsche und lebendige junge Frau mit langen dunklen Haaren und wachen braunen Augen. Sie ist charmant, klug und herzlich, ihre Stimme klingt hell und klar, ihr Lachen natürlich. Hier, in La Jolla, an der kalifornischen Küste, ist sie aufgewachsen. In ihrer Kindheit wurde zu Hause neben Englisch auch Deutsch gesprochen, ihr Vater stammt aus Deutschland, ihre Mutter aus Österreich. Nur wenige Tausend Meter von dieser Klippe entfernt steht das Haus, in dem die Familie gelebt hat. Die Mutter wohnt noch immer dort, in wenigen Tagen wird auch sie ausziehen. Lisl, die heute Hunderte Kilometer entfernt in Oakland lebt, hilft ihr beim Umzug. Dafür ist sie angereist. „Es ist eine sehr schwierige Zeit für meine Mutter“, sagt sie. Vor allem, weil das Haus voll ist von Fotos, Briefen, Bildern und Büchern ihres Bruders. Voll von Erinnerungen an die Tragödie, die ihr Leben lange überschattet und ihre Familie auseinander gerissen hat.
Lisl Schöpflin wird 1979 geboren, sie ist die Jüngste, ihr Bruder Axel ist dreieinhalb, ihre Schwester Isabel sechs. Ihre Mutter Marilies, eine elegante, schöne Frau, ist ein Kind des Wiener Großbürgertums, sie hat die besten Schulen besucht, Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und in Künstlerkreisen verkehrt. Vor der Geburt ihrer Kinder hat sie an der Universität von Nancy Deutsch und Theatergeschichte unterrichtet und für einen Wiener Theaterverlag als Lektorin gearbeitet. Seit 1975 lebt die Familie in La Jolla, einem pittoresken Vorort von San Diego an der amerikanischen Westküste. Lisls Vater Hans, Sohn von Hans Schöpflin Senior, der mit dem Versandhaus Schöpflin den Grundstein zum Wohlstand der Familie legte, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann; er hat in den USA eine Warenhauskette aufgebaut.
Der Alltag der Familie ist geprägt von materieller Sicherheit und Schönheit: ein weitläufiges Haus am Meer, in kalifornisch-spanischem Stil erbaut, die Zimmer sind groß, lichtdurchflutet und geschmackvoll eingerichtet, im Garten ein Swimmingpool. Der mondäne Country Club mit eigenem Strand liegt ganz in der Nähe, im Winter fliegt die Familie zum Skifahren in die Schweiz. Ein Leben auf der Sonnenseite, voller Bücher, Bilder und Musik; der Vater sammelt moderne Kunst, die Mutter liebt Literatur und klassische Musik, besonders Haydn und Mozart.
Auch Axel begeistert sich für Kunst, Literatur, Philosophie und Musik, für Klassik genauso wie für Rock der sechziger und siebziger Jahre; Bach und Bob Dylan, Beethoven und Jim Morrison. Axel ist neugierig und klug, an seiner High School gehört er zu den Besten.
Axels Beziehung zu seiner Mutter ist innig, das Verhältnis zu seinem Vater dagegen schwierig. Der Geschäftsmann ist häufig unterwegs, sehr viel Zeit verbringen Vater und Sohn nicht miteinander. Nur, wenn sie im Urlaub Ski laufen, sind sie einander nahe. Den Geschäftssinn des Vaters scheint Axel nicht geerbt zu haben; Wirtschaft und Finanzen interessieren ihn nicht. Manchmal flößt der zielstrebige und erfolgreiche Vater dem Jungen regelrecht Angst ein. Dann fürchtet er, er könne den Ansprüchen des Vaters nicht genügen.
Die dreieinhalb Jahre jüngere Lisl verehrt den großen Bruder. Axel leitet sie an, gibt ihr Bücher zu lesen, spielt ihr Musik vor, berät sie in der Wahl ihrer Freunde. Er ist ihr Vorbild, ihr Ratgeber, ihr Freund und Beschützer.
Axel kleidet sich extravagant – ein abgewetzter Samtanzug aus dem Secondhand-Laden, ein altmodischer, schwarzer Bowler, wie ihn die Fiaker in Wien tragen. Seine Freunde sehen ähnlich aus. Axel ist 15, da treffen sie sich einmal in der Woche nach der Schule auf jener Lichtung auf den Klippen, hoch oben über der Küste von La Jolla, wo der Blick frei ist und Meer und Himmel endlos scheinen. Hier sitzen sie, fünf, sechs Jungs zwischen 15 und 17, sehen die Sonne untergehen, lesen Rilke, Freud, Schopenhauer und reden sich die Köpfe heiß. Sie wollen Künstler oder Philosophen sein, die Welt verändern. Sie sind Idealisten, beseelt von heiligem Ernst und einer Selbstgewissheit, wie sie wohl nur Teenager kennen. Axel wählt die Bücher aus und führt meist das Wort. Am Abend spielt er auf seiner Gitarre Stücke von Bob Dylan. Irgendwann beginnen sie, auch mit Drogen zu experimentieren, suchen Inspirationen und neue Perspektiven im Drogenrausch. Axels Familie ahnt nichts davon.
„Axel und seine Freunde sind in La Jolla sehr aufgefallen“, sagt Lisl Schöpflin. „Nicht nur wegen ihrer Kleidung. Sie waren einfach sehr präsent, neugierig und lebendig.“ In der Buchhandlung, in der Axel in dem Jahr vor seinem Tod nach der Schule gearbeitet hat, hängt noch immer sein Bild an einer Tür. Es zeigt einen jungen Mann mit schmalem, ernstem Gesicht und feinen Zügen, das dunkelblonde Haar hat er kurz geschnitten. Der Inhaber des Ladens hat Axel sehr geschätzt. „Axel hätte ein großer Denker werden können“, sagt er. Auch Lisl hat zu dem großen Bruder aufgeschaut. „Mit 14 war ich davon überzeugt, dass Axel mir beibringen wird, worum es eigentlich geht im Leben.“
Sie will sich auch an die positiven Seiten des Bruders erinnern. „Axel war viel mehr als ein Drogenabhängiger, der an einer Überdosis starb“, sagt sie. „Seine Leidenschaft, seine Begeisterungsfähigkeit und seine Liebe zum Leben haben mich tief beeindruckt.“ Ihr ist es wichtig, dass die Geschichte ihres Bruders erzählt wird. „Wenn es um das Thema Drogen und Sucht geht“, sagt sie, „haben viele Menschen leider nur Klischees im Kopf und denken, dass Thema gehe sie nichts an.“ Darum hat sie sich entschlossen, in der Öffentlichkeit über ihren Bruder und seinen Tod zu reden, zum ersten Mal, auch wenn es immer noch schmerzt.
Axels Familie hat ebenfalls lange geglaubt, das Thema Heroin hätte nichts mit ihrem Leben zu tun. Manchmal hat Lisl sich gewundert, wenn ihrem Bruder beim gemeinsamen Abendessen die Augen zufielen und der Kopf auf die Brust sank. „Wahrscheinlich ist er müde“, hat sie dann gedacht. Auch ihre Mutter hat lange nichts bemerkt. „Leider“, sagt Marilies Schöpflin. Sie ist Anfang sechzig, groß und schlank. Ihr braunes Haar trägt sie kurz, die kalifornische Sonne hat ihre Haut gebräunt. Schmerz und die Trauer haben Falten in ihr Gesicht gegraben. Sie atmet schwer und spricht leise. Die Erinnerung scheint sie anzustrengen. „Vielleicht hätte ich sonst etwas ändern können.“ Noch heute fragt sie sich, welche Warnsignale sie übersehen hat.
In den vergangenen Jahren hat sie nach Antworten gesucht, auch im Gespräch mit früheren Freunden ihres Sohnes. „Ich denke, was Axel an den Drogen fasziniert hat, war die Möglichkeit, seinen Geist zu erweitern, besondere Erfahrungen zu machen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Schließlich hatten viele der Literaten, Künstler und Denker, die er so verehrte, mit Drogen experimentiert. Er hat die Gefahr einfach unterschätzt.“
Axel ist 16, als er die Droge mitbringt ins Haus seiner Eltern. Sein Freund P. ist drei Jahre älter, ein sensibler, intelligenter junger Mann, in den ersten High-School-Jahren hatte er zwei Klassen übersprungen. P. ist ein talentierter Maler. Und ein Junkie. Sein Heroinkonsum hat ihm schon einige Schulverweise eingebracht, seine Eltern haben ihn hinausgeworfen und die Unterstützung gestrichen. „P. ist ein Genie“, sagt Axel zu seiner Mutter. „Wir müssen ihm helfen, von den Drogen loszukommen.“ Einige Wochen später bringt er seinen Freund für einen methadongestützten Drogenentzug in eine nahe gelegene Klinik. Marilies ist stolz auf ihren Sohn.
Im Frühling des Jahres 1994, Axel ist 18 und steht kurz vor dem Abschluss der High School, spürt Marilies Schöpflin eine seltsame Unruhe. Ihr Sohn ist im Badezimmer, hat sich dort eingeschlossen, einige Ewigkeit schon, scheint es ihr. Seit Wochen schwelt in ihr ein vages Misstrauen. Das Verhalten ihres Sohnes hat sich verändert, oft wirkt er abwesend und unnahbar. Sein Freund P. hat seinen Klinikaufenthalt abgebrochen, ein anderer Freund ist kürzlich nach einer Überdosis Heroin auf der Intensivstation gelandet. Als Marilies davon erfuhr, hat sie ihren Sohn gefragt: „Axel, nimmst du auch Drogen? Du musst keine Angst haben, wir helfen dir. Aber sag mir bitte die Wahrheit.“ Axel hat empört reagiert. „Mama, hältst du mich für einen Idioten?“, hat er gesagt, „Ich werde mir doch nicht mit Drogen mein Gehirn ruinieren. Ich will noch so viel erreichen im Leben! Glaubst du, ich will in der Gosse enden?“ Damals hat ihr diese Antwort genügt. Axel wirkte sehr überzeugend, und er hatte nie gut lügen können.
Aber ein Rest von Unruhe ist geblieben. Und dieser Rest wächst an diesem Tag, wird so groß, das sie ihn nicht mehr ignorieren kann. Sie klopft an die Tür des Badezimmers. Nichts geschieht. Sie klopft erneut, wieder keine Antwort. „Axel, mach auf, ich weiß, dass du da drin bist.“ Ihr Sohn antwortet nicht. Was soll sie tun? Ihr Mann ist auf einer Geschäftsreise, Isabel studiert mittlerweile in Stanford, Marilies ist allein mit Axel und ihrer jüngsten Tochter. Die 14-jährige Lisl ist in ihrem Zimmer, sie steht vor dem Kleiderschrank, am Abend will sie auf eine Party gehen, sie kann sich nicht entscheiden, was sie anziehen soll. Ihre Mutter öffnet hastig die Tür. „Axel hat sich im Bad eingeschlossen und reagiert nicht“, sagt Marilies. Sie klopfen gemeinsam, rufen seinen Namen. Kein Laut dringt aus dem Badezimmer. „Dir scheint es nicht gut zu gehen“, sagt seine Mutter, „ich rufe jetzt den Rettungsdienst.“ Axel reagiert nicht.
Der Rettungswagen kommt nach wenigen Minuten. Als einer der Sanitäter energisch gegen die Tür klopft, öffnet Axel. „Hier ist alles in Ordnung“, sagt er, sein Blick ist verschleiert, seine Stimme scheint aus weiter Ferne zu kommen. Er kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Rettungssanitäter untersuchen den apathisch wirkenden jungen Mann. „Sieht nach einer hohen Dosis Heroin aus“, sagt einer der Sanitäter und injiziert Axel ein Medikament, das ihn ausnüchtern soll. Dann verabschieden sie sich.
Marilies will nicht, dass die Lisl ihren geliebten Bruder so sieht. „Besser, du gehst in dein Zimmer und machst Hausaufgaben“, sagt sie. Aber Lisl will bei ihrem Bruder bleiben, Hausaufgaben, die Party später am Abend, nichts ist mehr von Bedeutung. Sie will helfen. Auch wenn sie kaum begreift, was vor sich geht. Das Mädchen setzt sich neben den großen Bruder, der teilnahmslos auf dem Sofa hockt, und nimmt seine Hand. Marilies setzt sich auf die andere Seite, der Schock und die Angst lassen sie am ganzen Körper zittern. Sie versucht, mit ihrem Sohn zu reden, aber es gelingt ihr kaum, durch das Heroin zu ihm durch zu dringen.
Marilies sucht nach Antworten. Sie will ihrem Sohn helfen. Aber bevor sie helfen kann, muss sie verstehen. Warum hat er das getan? Wie lange nimmt er schon Drogen? „Das war das erste Mal“, sagt Axel schließlich, „Das war nur ein Versuch, viele der gescheitesten Menschen der Welt haben mit Drogen experimentiert. Aber ich weiß jetzt, dass es ein Fehler war. So etwas wird nie wieder vorkommen, das musst du mir glauben.“ Marilies will ihm glauben, unbedingt. Ihr kluger, sensibler, talentierter Sohn kann doch nicht so dumm sein, sich sein Leben mit Drogen zu ruinieren. Sie nimmt Axel in den Arm. Jetzt nur keinen Streit, der den Sohn noch weiter weg treiben könnte.
Hans Schöpflin reagiert anders. Seine Angst und Hilflosigkeit schlagen um in Wut. Er schreit seinen Sohn an, droht ihm mit Strafe. Danach nur Sprachlosigkeit. Er findet keine Worte für den Aufruhr in seinem Inneren. Dass dieses Schweigen den Vater genauso schmerzt, ahnt Axel nicht. Hilflosigkeit, Angst, so etwas passt nicht in das Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hat.
In dieser Nacht findet Lisl Schöpflin keinen Schlaf. Da ist eine diffuse Angst, die größer und größer wird. Sich in ihr festsetzt. Zum ersten Mal spürt sie, dass die Sicherheit und Harmonie, die ihr Leben ausmachen, brüchig sind. Was ist das Schlimmste, das ihrer Familie zustoßen könnte? Sie liegt wach und malt sich Katastrophen aus. Die Schlimmste wäre, dass Axel an den Drogen stirbt.
Aber die Katastrophe scheint auszubleiben. Im darauf folgenden Jahr besteht Axel die Abschlussprüfungen an der High School als Klassenbester, er wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Das Familienleben geht wieder seinen gewohnten Gang. Axels Mutter hat gelesen, dass Drogenabhängige durch rapiden Leistungsabfall und Verwahrlosung auffallen. Nichts davon bemerkt sie bei ihrem Sohn. Im Gegenteil, er bekommt die Zusage für einen Studienplatz in Physik und Philosophie an der renommierten Chicagoer Universität.
Im September 1994 zieht Axel nach Chicago. Er lebt sich schnell ein, findet neue Freunde, und auch an der Universität gehört er bald zu den Besten. Marilies besucht ihn häufig, im Laufe der Wochen und Monate schwindet ihre Angst vollständig. Auch Hans besucht seinen Sohn in Chicago. Zaghaft beginnen Vater und Sohn, sich einander anzunähern, das erste Mal seit Jahren. Gemeinsam besuchen sie das Museum of Contemporary Art, Axel ist beeindruckt vom Kunstverstand seines Vaters.
Im März des darauf folgenden Jahres stirbt Andre, einer von Axels engsten Freunden in La Jolla, an einem Hirntumor. Es ist ein schwerer Schock. Marilies fliegt nach Chicago, sie will ihrem Sohn beistehen. „Axel, ich bin so stolz auf dich, dass du es geschafft hast, von den Drogen loszukommen“, sagt sie kurz vor ihrem Rückflug. Zu diesem Zeitpunkt spritzt Axel längst wieder Heroin.
Die Semesterferien verbringt Axel im Haus seiner Eltern. Lisl ist glücklich, dass der geliebte Bruder wieder da ist. Am späten Vormittag des 12. Juni 1995 kommt sie vom Klavierunterricht nach Hause. Axel tollt im Garten mit dem Hund. Sie setzt sich im Wohnzimmer an das Piano und beginnt zu spielen, den „Türkischen Marsch“ von Mozart. Irgendwann kommt ihr Bruder ins Zimmer und hört zu. Auf Axels Rat hin hat sie begonnen, diese Partitur zu lernen, er lobt sie für ihre Fortschritte. Lisl ist stolz. Sie ahnt nicht, dass es das letzte Mal sein wird, dass sie ihren Bruder lebend sieht.
Lisl geht in ihr Zimmer. Es ist der letzte Schultag, sie räumt die alten Schulbücher beiseite, schafft Platz für all das Neue, das nach den Sommerferien auf sie wartet. Ein warmer, sonniger Frühsommertag, Lisls Mutter sitzt in ihrem Arbeitszimmer im Obergeschoss des Hauses, sie hat die Fenster geöffnet, vom Meer her weht ein lauer Wind. Die Stimmung in der Familie ist harmonisch. Hans und Axel sind ein paar Tage zuvor essen gegangen, allein. Beinahe sechs Stunden waren die beiden unterwegs, und als sie nach Hause kamen, wirkten sie aufgekratzt. Hans strahlte vor Glück. „Aus Axel ist ein toller junger Mann geworden“, sagte er am Abend zu seiner Frau.
Es klopft an Marilies‘ Zimmertür. Es ist Florencia, die spanische Haushaltshilfe. „Wissen Sie, wo Axel ist?“, fragt sie. „Ich kann ihn nirgends finden. Ich würde gerne sein Zimmer sauber machen.“ Marilies schaut in Axels Zimmer, sieht im Wohnzimmer nach, im Garten. Keine Spur von ihm. Sie ruft ihren Sohn. Keine Antwort. Das Schweigen macht ihr Angst. Sie eilt zum Badezimmer. Die Tür ist verschlossen. Sie rüttelt daran. „Axel, bist du da drin? Mach bitte auf.“ Niemand antwortet. Was soll sie tun? Hans ist nicht zu Hause, nur Lisl. Marilies muss in dieses Badezimmer gelangen, irgendwie. Das Badezimmerfenster ist von außen mit einem mexikanischen Schmiedeeisengitter verziert, vielleicht gelingt es Lisl, sich durch die Lücke hindurchzuzwängen. Marilies ruft die 15-jährige Tochter zu Hilfe. Lisl entriegelt die Badezimmertür mit einem Kleiderbügel. Öffnen lässt sie sich dennoch kaum, etwas Schweres blockiert die Tür von Innen. Es ist Axel, der am Boden liegt. Mit vereinten Kräften schieben Marilies und Lisl die Tür auf. Marilies nimmt den regungslosen Sohn weinend in die Arme, bettet seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie ruft seinen Namen, immer wieder. Aber Axel antwortet nicht. Kein Laut, keine Bewegung, kein Atemzug. „Ruf den Notarzt, schnell.“ Lisl eilt zum Telefon. Wählt die Notrufnummer, dann die Büronummer ihres Vaters. Dann holt sie aus dem Zimmer ihres Bruders den Hut, den Axel so gerne trägt. Sie setzt sich neben ihre Mutter und den Bruder und wartet auf die Sanitäter, den Hut wird sie tagelang nicht mehr aus der Hand legen.
Hans Schöpflin trifft kurz vor dem Rettungswagen ein. Als er seine Frau dasitzen sieht, den reglosen Sohn in den Armen, schreit er auf, laut und gequält, Tränen rinnen über sein Gesicht. Es ist das erste Mal, dass Lisl ihren Vater weinen sieht. Die Sanitäter können wenige Minuten später nur noch den Tod durch eine Überdosis Heroin feststellen. Lisl ruft den Pfarrer. Als der Geistliche Axel die Sterbesakramente erteilt, hält Lisl Axels Hand.

Nachdem der Leichnam abtransportiert ist, verkriecht sich Marilies Schöpflin im Zimmer ihres Sohnes. Sie steht unter Schock, das ist zu viel für sie, viel zu viel. Sie legt sich auf Axels Bett, schlingt die Arme um ihre Beine, rollt sich zusammen wie ein Kleinkind. Sie kann nicht aufhören zu weinen.
„Als ich damals Axels Hand gehalten habe, war er ganz kalt und blau“, erinnert sich Lisl Schöpflin, ihre Stimme stockt ein wenig. „In dem Moment habe ich deutlich gespürt, dass mein Bruder nicht mehr da war.“ Axels Überdosis hat ihr Leben für Jahre überschattet; ein Schock, der eine existenzielle Angst in ihr auslöste. Sie sei lange depressiv gewesen, der Gedanke an Tod und Verlust habe ihr gesamtes Denken beherrscht, sagt sie.
Die Verarbeitung hat gedauert. Das Schreiben und eine Gesprächstherapie haben ihr dabei geholfen. Schon in der High School hat sie begonnen, Theaterstücke zu schreiben. Für ihr erstes Stück, das von einer Bruder-Schwester-Beziehung handelt, wurde sie als 16-Jährige beim „California Young Playwrights Contest“ ausgezeichnet. Ein späteres Stück erzählte die Geschichte eines Jungen, der an einer Überdosis stirbt.
Nach der Highschool studierte sie an der Universität von Pennsylvania Anthropologie und Theaterwissenschaften, während ihres Studiums arbeitete sie ein Jahr in San Salvador mit Straßenkindern. „Eine Zeit lang habe ich versucht, so zu leben, wie ich dachte, dass Axel es getan hätte, ich wollte sein Vermächtnis wahren“, sagt sie. „Es hat Jahre gedauert, bis ich in der Lage war, mein eigenes Leben zu führen.“ Sie habe ihren Bruder lange idealisiert. Erst seit einigen Jahren könne sie ihn differenzierter sehen. „Natürlich war er noch unfertig, manchmal sogar überheblich und selbstgefällig“, gesteht sie ein. „Er hat einfach nicht daran geglaubt, dass die Drogen ihm etwas anhaben können.“
Noch heute ist Axel sehr präsent in ihrem Leben. Zu einigen der alten Freunde und ehemaligen Freundinnen ihres Bruders pflegt sie eine enge Beziehung. Und erst kürzlich hat ein alter Brief ihres Bruders, der ihr zufällig in die Hände fiel, sie dazu bewogen, einen ungeliebten Job zu kündigen und sich wieder verstärkt dem Theater zu widmen. „Er hat mir klar gemacht, wie wichtig es ist, die Dinge zu tun, die mir wirklich etwas bedeuten“, sagt sie.
Ihre Mutter hat sich in den Jahren nach Axels Tod bemüht, das unvollständige Puzzle seines Sterbens zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. „Ich glaube nicht, dass Axel sich umbringen wollte“, sagt Marilies Schöpflin. Wenige Wochen nach Axels Tod hat sie in der New York Times gelesen, dass in jenem Monat eine große Lieferung von sehr reinem Heroin an der Ost- und an der Westküste der USA eingetroffen war. Dieser Stoff habe die Zahl der Herointoten zu dieser Zeit drastisch ansteigen lassen. Dass Axel an einer Überdosis gestorben ist, begreift Marilies Schöpflin als tragischen Unfall. Trotzdem quälen sie noch heute Fragen nach Schuld, Verantwortung und Versäumnissen.
Axels Tod hat die Familie auseinander gerissen. „Hans und ich sind mit dieser Belastung nicht zurechtgekommen“, sagt Marilies Schöpflin. Auch, weil es auf beiden Seiten Vorwürfe und Schuldzuweisungen gab, unausgesprochen zwar, aber quälend. Trost beim anderen zu finden war ihnen nicht möglich. Nicht einmal reden konnten sie miteinander über den Schmerz und den Verlust. „Wir beide sind völlig unterschiedlich mit unserer Trauer umgegangen“, sagt Marilies Schöpflin. „Jeder hat auf seine Weise versucht, irgendwie weiterzuleben.“ Ihr Mann hat seinen Schmerz und seine Verzweiflung in Wut gekleidet. Für ihn, der sein Leben lang Probleme angepackt und gelöst hatte, waren dieser Verlust, die Hilflosigkeit und das Gefühl der Niederlage nicht anders auszuhalten.

Marilies hat sich in sich selbst zurückgezogen, eingemauert in der Erinnerung, unerreichbar für ihren Mann. Sie wollte den Sohn betrauern und die glücklichen gemeinsamen Momente im Gedächtnis bewahren, seine Stärken. Den Ärger des Ehemannes auf den toten Sohn und auf dessen Sucht konnte sie nicht ertragen.
Zwischen den Eheleuten war irgendwann nur noch Schweigen, hilflos und anklagend. „Es war, als würden wir beide in einem schlimmen Sturm auf dem Ozean treiben. Jeder in einem eigenen kleinen Ruderboot, inmitten turmhoher Wellen, die Strömung trieb uns auseinander. Und unsere Boote hatten beide ein Leck. Wir konnten einander nicht helfen, wir konnten nicht einmal zueinander gelangen.“ Das Ende der Ehe war nicht mehr aufzuhalten. Hans Schöpflin zog aus und siedelte über nach San Francisco. Er sah am Ende keine andere Möglichkeit mehr. Zwei Jahre nach Axels Tod wurden seine Eltern geschieden.
Lisl war damals sehr wütend auf den Vater, sie fühlte sich verraten und im Stich gelassen. „Ich konnte das nicht verstehen, ich wollte, dass er bei uns bleibt, stark ist und uns hilft“, sagt sie.  Mittlerweile sind sich Lisl Schöpflin und ihr Vater wieder näher gekommen, regelmäßig verbringen Hans, Marilies, Lisl und Isabel Schöpflin den Urlaub gemeinsam.  Die Familie hat wieder zusammengefunden. Nicht zuletzt durch die gemeinsame Arbeit für den von Hans Schöpflin ins Leben gerufenen gemeinnützigen Sunflower Fund, in dem sich die Schöpflins seit fast zwei Jahren gemeinsam engagieren. Der Sunflower Fund unterstützt unter anderem sozial Unterprivilegierte, versucht, ihnen Bildung zu ermöglichen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. „Axels Lieblingsblume war die Sonnenblume“, sagt Lisl Schöpflin. „Mit der Stiftung wollen wir in seinem Sinne einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt ein besserer Ort wird.“
Ein Anliegen, dem Hans Schöpflin mittlerweile seine gesamte Energie widmet. Axels Überdosis hat das Leben seines Vaters umgekrempelt. „Früher ging es meinem Vater hauptsächlich um beruflichen Erfolg“, sagt Lisl Schöpflin. Heute scheint es beinahe so, als habe der Vater das Erbe seines Sohnes angetreten. Vor vier Jahren hat er gemeinsam mit seiner Ex-Frau, seinen Töchtern und seinen Geschwistern die Stiftung „Villa Schöpflin – Zentrum für Suchtprävention“ gegründet und ihr den Familienstammsitz überschrieben, eine Villa im baden-württembergischen Lörrach. Die Schöpflins wollen helfen, anderen Eltern die schmerzhaften Erfahrungen zu ersparen, die sie selbst machen mussten. Oder, wenn das nicht möglich ist, zumindest einen Ort schaffen, an dem sie Rat und Hilfe finden können.
Vor wenigen Wochen ist die Arbeit der Villa Schöpflin von der Initiative „Land der Ideen“ ausgezeichnet worden. Zudem haben Hans Schöpflin und seine Geschwister die Staufermedaille des Landes Baden Württemberg verliehen bekommen, als Auszeichnung für „beispielhaftes Engagement, das  sich Menschen zuwendet, die am Rande stehen“. Hans Schöpflin wendet viel Zeit und Energie dafür auf, Sponsoren und Spender für seine Projekte zu gewinnen. „In Deutschland ist gemeinnütziges Engagement leider noch nicht selbstverständlich“, sagt er. Von seinen geschäftlichen Erfolgen in der profitorientierten Wirtschaft mag er heute nicht mehr sprechen. Dass war in einem anderen Leben.
Doch trotz des Bewusstseinswandels, den Axels Überdosis bei ihm ausgelöst hat, über den Tod seines Sohnes kann Hans Schöpflin nicht reden. Die Erinnerung, sagt er, sei noch immer zu schmerzhaft.